MARTYRIUM
Am
nächsten Morgen begab sich Eragon auf die Suche nach Arya, um sich
bei ihr zu entschuldigen. Über eine Stunde forschte er vergeblich
nach ihr. Es schien, als wäre sie in einer der vielen verborgenen
Ecken von Ellesméra verschwunden. Vor der Tialdarí-Halle erhaschte
er einen flüchtigen Blick auf sie. Er blieb stehen und rief zu ihr
hinüber, doch sie entwischte ihm, bevor er sie
erreichte. Sie weicht mir aus, wurde
ihm bewusst.
In den folgenden Tagen legte Eragon im
Unterricht einen solchen Eifer an den Tag, dass Oromis ihn mehrfach
lobte. Er tauchte vollkommen in seine Studien ein, um sich von Arya
abzulenken.
Eragon büffelte Tag und Nacht, um den ganzen
Unterrichtsstoff zu verarbeiten. Er lernte die Worte des Erzeugens,
Bindens und Heraufbeschwörens und die wahren Namen der Pflanzen und
Tiere, studierte die Gefahren der Verwandlung und wie man Wind und
Wellen in Wallung brachte und paukte sich dazu Myriaden anderer
Fähigkeiten ein, die man beherrschen musste, um die Kräfte der Welt
zu begreifen. Bei Zaubern, die mit großen Energien - zum Beispiel
Licht, Wärme und Magnetismus - verknüpft waren, glänzte er. Er
besaß das Talent, genau abschätzen zu können, wie viel Kraft eine
Aufgabe erforderte und wie sehr sie ihn schwächen würde.
Ab und zu kam Orik vorbei und schaute ihnen
zu. Er blieb wortlos am Rande der Lichtung stehen, während Oromis
Eragon unterrichtete, oder er beobachtete aus der Ferne, wie Eragon
sich allein mit einem besonders schwierigen Zauber abmühte.
Oromis hielt manche Herausforderung für
Eragon bereit. Er ließ ihn Mahlzeiten zaubern, um ihn die feinere
Kontrolle der Gramarye zu
lehren; Eragons erstes »Gericht« war eine ungenießbare schwarze
Pampe. Der Elf zeigte ihm, wie man Vergiftungen aller Art aufspürte
und neutralisierte, und von da an musste Eragon seine Speisen auf
die verschiedenen Gifte prüfen, die Oromis hineinschmuggelte. Mehr
als einmal musste Eragon hungern, weil er das Gift nicht fand oder
kein Gegenmittel wirken konnte, und zweimal bekam er so heftige
Bauchschmerzen, dass Oromis ihn heilen musste. Dann befahl er
Eragon, mehrere Zauber gleichzeitig zu wirken, was ungeheure
Konzentration erforderte, um die magischen Ströme auf die
Zielobjekte gerichtet zu halten und nicht zwischen ihnen hin und
her zu wechseln.
Oromis widmete viele Stunden der Kunst,
Gegenstände mit Energie aufzuladen, die entweder später wieder
entnommen werden sollte oder dem Objekt bestimmte Eigenschaften
verlieh. »Auf diese Weise hat Rhunön die Schwerter der Reiter
verzaubert, damit sie niemals brechen oder stumpf werden«, erklärte
der Elf. »So lassen wir unsere Pflanzen in bestimmte Formen wachsen
oder verbergen in einem Kasten eine Falle, die erst zuschnappt,
wenn man den Kasten öffnet. Die Zwerge und wir stellen damit
die Erisdar her, unsere
Laternen, und man heilt damit Verletzungen, nur um einige
Anwendungen zu nennen. Es sind die mächtigsten Zauber, die es gibt,
denn sie können tausende von Jahren in den Dingen schlummern und
sind ebenso schwer aufzuspüren wie abzuwenden. Sie durchdringen
einen großen Teil von Alagaësia und formen das Land und das
Schicksal seiner Bewohner.«
»Kann man diese Techniken auch dazu
benutzen, den Körper zu verändern?«, wollte Eragon wissen. »Oder
ist das zu gefährlich?«
Oromis lächelte unmerklich. »Da bist du über
die größte Schwäche von uns Elfen gestolpert, nämlich unsere
Eitelkeit. Wir lieben die Schönheit in all ihren Formen und
versuchen, diesem Ideal natürlich auch äußerlich zu entsprechen.
Deshalb nennt man uns auch ›das schöne Volk‹. Jeder Elf sieht exakt
so aus, wie er oder sie es gerne möchte. Wenn die Elfen die Zauber
für Wachstum und Formgebung erlernen, beschließen viele, ihr
Äußeres zu verändern, um ihre Persönlichkeit besser zur Geltung zu
bringen. Einige Elfen sind sogar über rein ästhetische
Veränderungen hinausgegangen und haben ihre Anatomie verändert, um
sich ihrer Umgebung besser anzupassen. Sie ähneln oft eher Tieren
als Elfen. Du wirst es bei der Blutschwur-Feier sehen.
Doch diese Kräfte auf ein lebendes Geschöpf
zu übertragen, funktioniert etwas anders, als sie auf ein
unbelebtes Objekt zu richten. Nur sehr wenige Materialien eignen
sich dafür, Energie zu speichern. Die meisten lassen sie rasch
entweichen oder laden sich so auf, dass einen ein Blitz trifft,
wenn man sie berührt. Die geeignetsten Materialien für diesen Zweck
sind Edelsteine. Quarze, Achate und andere Halbedelsteine sind zwar
nicht so wirkungsvoll wie zum Beispiel ein Diamant, aber im Prinzip
funktioniert es mit jedem Edelstein. Darum steckt im Schwertknauf
unserer Reiter stets ein Juwel. Und das ist auch der Grund, warum
eine Zwergenkette, die nur aus Metall besteht, ihren Zauber mit
deiner Lebenskraft speist, denn sie selbst kann keine Energie in
sich halten.«
Wenn Eragon nicht bei Oromis war, lernte er
allein weiter, indem er die Schriftrollen studierte, die der Elf
ihm mitgegeben hatte, und bald wurde ihm diese Pflicht zur lieb
gewonnenen Gewohnheit. Garrows spärliche Erklärungen hatten Eragon
nur das Wissen vermittelt, das man brauchte, um einen Hof zu
bewirtschaften. Die Informationen, die er in den endlos langen
Papierbahnen fand, sickerten in ihn ein wie Regen in eine verdörrte
Wüste und stillten einen Durst, dessen er sich bisher gar nicht
bewusst gewesen war. Er verschlang Texte über Geographie, Biologie,
Anatomie, Philosophie und Mathematik genauso gierig wie Aufsätze,
Biografien und Geschichtsabhandlungen. Wichtiger als die Kenntnis
der bloßen Tatsachen war ihm jedoch, dass er dadurch andere
Denkweisen kennen lernte. Sie rüttelten an seinen Überzeugungen und
zwangen ihn, seine Ansichten über viele verschiedene Dinge zu
überdenken, angefangen von den Rechten des Individuums in der
Gesellschaft bis hin zu der Frage, welche Kraft die Sonne über den
Himmel trieb.
Viele der Texte handelten von den Urgals und
ihrer Kultur. Eragon las sie, gab jedoch keinen Kommentar dazu ab.
Auch Oromis brachte das Thema nicht zur Sprache.
Bei seiner Lektüre lernte Eragon auch viel
über die Elfen. Dieses Thema verfolgte er am eifrigsten, weil er
sich davon erhoffte, Arya besser zu verstehen. Zu seiner
Überraschung las er, dass die Elfen nicht heirateten, sondern sich
bloß Gefährten nahmen, entweder für einen Tag oder für ein ganzes
Jahrhundert. Kinder waren sehr selten, und ein Kind zu bekommen,
galt unter den Elfen als wertvollster Liebesschwur.
Eragon erfuhr auch, dass es nur eine Hand
voll gemischter Paare gegeben hatte, seit die Elfen und Menschen
zum ersten Mal aufeinander getroffen waren: Meistens hatte ein
menschlicher Drachenreiter eine Gefährtin unter den Elfen gefunden.
Soweit er aus den eher kryptischen Andeutungen der Texte schlau
wurde, endeten die meisten dieser Beziehungen tragisch, entweder
weil die Liebenden unfähig waren, sich wirklich auszutauschen, oder
weil die Menschen alterten und starben, während die Elfen vom
nagenden Zahn der Zeit unberührt blieben.
Neben den Sachtexten gab Oromis dem jungen
Reiter Abschriften der berühmtesten Elfenlieder, ihrer Gedichte und
Epen, die Eragons Fantasie ungemein anregten, da er bisher nur die
Geschichten kannte, die Brom in Carvahall vorgetragen hatte. Eragon
schwelgte in den Werken, so wie er eine köstliche Speise genossen
hätte, und hockte nächtelang über Gëdas
Heldentaten und der Ballade von
Umhodan, sosehr fesselten ihn diese Erzählungen.
Auch Saphiras Ausbildung schritt rasch
voran. Da sie mit Eragon verbunden war, erlebte er mit, wie Glaedr
sie durch Lektionen führte, die genauso anstrengend waren wie seine
eigenen. Sie übte, aus der Luft Felsbrocken anzuheben und
Sturzflüge, halsbrecherische Überschläge und andere akrobatische
Flugmanöver durchzuführen. Um ihre Ausdauer zu trainieren, ließ
Glaedr sie Feuer auf eine natürliche Felssäule speien, um sie zum
Schmelzen zu bringen. Zunächst konnte Saphira die Flammen nur ein
paar Minuten speisen, doch schon bald schossen sie ihr über eine
Stunde lang ohne Unterlass aus den Nüstern und erhitzten die
Felssäule, bis der Stein Blasen warf und weiß glühte. Eragon erfuhr
auch einiges von den alten Drachenlegenden, die Glaedr Saphira
erzählte. Es waren Einzelheiten über das Leben und die Geschichte
der Drachen, die Saphiras angeborenes Wissen ergänzten. Das meiste
jedoch blieb Eragon verschlossen. Er vermutete, dass Saphira ihm
bestimmte Geheimnisse ihrer Spezies absichtlich vorenthielt, da
Drachen dieses Wissen nur mit ihresgleichen teilen durften. Aber
eine für Saphira sehr wichtige Information, die er erfuhr, waren
der Name ihres Vaters, Iormúngr, und der ihrer Mutter, Vervada.
Letzterer bedeutete in der alten Sprache »Sturmspalter«. Iormúngr
hatte sich an einen Reiter gebunden, Vervada jedoch war eine frei
lebende Drachendame gewesen, die viele Eier gelegt, aber nur eines
davon den Reitern anvertraut hatte: Saphira. Beide Drachen waren in
der Schlacht gestorben.
Manchmal flogen Eragon und Saphira zusammen
mit Oromis und Glaedr und übten den Luftkampf oder besuchten
verfallene Ruinen, die über ganz Du Weldenvarden verstreut lagen.
An anderen Tagen kehrten sie ihren gewohnten Tagesablauf um: Dann
begleitete Eragon Glaedr, während Saphira bei Oromis auf den Felsen
von Tel’naeír blieb.
Morgens kämpfte Eragon mit Vanir, was jedes
Mal eine oder sogar mehrere Schmerzattacken auslöste. Schlimmer
jedoch war die hochmütige Verachtung, die der Elf Eragon
entgegenbrachte. Seine beiläufigen Bemerkungen verletzten jedoch
nie die formellen Grenzen der Höflichkeit, und er selbst ließ sich
durch nichts aus der Fassung bringen, ganz gleich, wie sehr Eragon
gegen ihn stichelte. Eragon verabscheute ihn und seine kühle,
vornehme Arroganz. Es kam ihm vor, als wollte Vanir ihn mit seiner
bloßen Gegenwart beleidigen. Vanirs Gefährten - die, soweit Eragon
es beurteilen konnte, einer jüngeren Elfengeneration angehörten -
teilten seine unverhohlene Ablehnung gegenüber Eragon, obwohl sie
Saphira immer äußerst respektvoll behandelten.
Ihre Rivalität erreichte den Höhepunkt, als
Vanir bei einem Kampf das Schwert sinken ließ, nachdem er Eragon
sechsmal hintereinander getroffen hatte. »Schon wieder tot,
Silberhand. Wie langweilig. Möchtest du wirklich fortfahren?« Sein
Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er es für sinnlos hielt.
»Ja«, knurrte Eragon. Er hatte gerade einen
Anfall gehabt und war nicht in der Stimmung für Wortgefechte.
Da fragte Vanir: »Eines musst du mir
verraten: Wie hast du eigentlich Durza getötet, wo du doch so
langsam bist? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie dir das
gelungen sein soll.« Trotz seines Vorsatzes ließ sich Eragon zu
einer Antwort provozieren: »Ich habe ihn überrascht.«
»Natürlich. Ich hätte mir denken können,
dass du eine List angewendet hast.«
Eragon widerstand dem Impuls, auf die Zähne
zu beißen. »Wäre ich ein Elf und du ein Mensch, hättest du meiner
Klinge nichts entgegenzusetzen.«
»Vielleicht«, erwiderte Vanir. Er nahm die
Grundstellung ein und entwaffnete Eragon mit drei schnellen
Schlägen. »Aber eigentlich glaube ich das nicht. Du solltest vor
einem besseren Schwertkämpfer nicht so angeben, sonst könnte der
sich entscheiden, dich für deine Frechheit zu bestrafen.«
Eragon riss der Geduldsfaden und er
versenkte sich in den Strom der Magie. Er ließ die aufgestaute
Kraft mit einem der zwölf minderen Bindungsworte los und rief
»Malthinae!«, fesselte Vanirs Beine und
Arme und verschloss ihm den Mund, sodass er keinen Gegenzauber
sprechen konnte. Dem Elf gingen vor Wut fast die Augen über.
»Und du solltest nicht vor jemandem prahlen,
der besser mit Magie umgehen kann als du.«
Vanir zog die dunklen Brauen zusammen, bis
sie auf seiner Stirn eine einzige durchgehende Linie
bildeten.
Ohne Vorwarnung und vollkommen lautlos traf
eine unsichtbare Kraft Eragons Brust und schleuderte ihn zehn Meter
über die Wiese. Er landete schwer auf der Seite und rang nach Luft.
Bei dem Aufprall verlor er die Kontrolle über seinen Zauber. Vanir
war wieder frei.
Wie hat er das
gemacht?
Vanir kam zu ihm. »Deine Ignoranz verrät
dich, Mensch. Du weißt nicht, wovon du sprichst. Die Vorstellung,
dass du als Vraels Nachfolger erwählt wurdest, dass man dir sein
Quartier gegeben hat, dass man dir die Ehre erweist, dem trauernden
Weisen zu dienen...« Er schüttelte den Kopf. »Es macht mich krank,
dass solche Gaben an einen so Unwürdigen verschwendet werden. Du
verstehst weder, was Magie ist, noch, wie sie wirkt.«
Eragons Wut spülte wie eine Sturzflut über
ihn hinweg. »Was habe ich dir überhaupt getan?«, brüllte er den Elf
an. »Warum verachtest du mich so? Wäre es dir lieber, wenn es
keinen Drachenreiter gäbe, der es mit Galbatorix aufnimmt?«
»Meine Meinung hat hier wenig zu
bedeuten.«
»Das stimmt. Trotzdem würde ich sie gern
hören.«
»Zu lauschen ist, wie Nuala in seinen
›Anrufungen‹ geschrieben hat, nur dann ein Pfad zur Weisheit, wenn
es bewusst geschieht und nicht auf der Abwesenheit von Wahrnehmung
beruht.«
»Halt mir keine langen Vorträge, Vanir,
sondern gib mir eine ehrliche Antwort!«
Vanir lächelte kalt. »Wie du
befiehlst, Drachenreiter.« Der Elf
trat näher heran, damit nur Eragon ihn hörte. »Nach dem Untergang
der Reiter haben wir achtzig Jahre lang keine Hoffnung auf einen
Sieg gehabt. Wir haben nur überlebt, weil wir uns mit Magie
versteckt hielten, was jedoch keine dauerhafte Lösung ist, denn
irgendwann wird Galbatorix so mächtig sein, dass er gegen uns
marschieren und unsere Schutzwälle beiseite fegen kann. Aber dann
haben Brom und Jeod Saphiras Ei gerettet. Wir hatten plötzlich
wieder eine reelle Chance, den Tyrannen zu besiegen. Wir wussten,
dass der neue Drachenreiter mächtiger als alle seine Vorgänger sein
musste, um gegen Galbatorix bestehen zu können, stärker noch als
Vrael. Und womit wurde unsere Geduld belohnt? Mit einem Menschen,
schlimmer noch, mit einem Krüppel. Du hast uns in dem Moment, als
du Saphiras Ei berührtest, dem Untergang geweiht, Eragon! Also
erwarte nicht, dass du hier willkommen bist.« Vanir führte den
Mittel-und Zeigefinger an die Lippen, ging um Eragon herum und
verließ den Übungsplatz. Eragon blieb wie erstarrt stehen.
Er hat Recht,
dachte er. Ich bin dieser monströsen
Aufgabe nicht gewachsen. Jeder dieser Elfen, selbst Vanir, wäre ein
besserer Drachenreiter als ich.
Wütend verstärkte Saphira das Band zwischen
ihnen. Schätzt du mein Urteilsvermögen so
gering, Eragon? Du vergisst, dass Arya mich all diesen Elfen und
zahllosen Kindern der Varden vorgestellt hat, als ich noch in
meinem Ei lag. Ich habe sie alle abgewiesen. Ich wollte nur
jemanden zu meinem Reiter erwählen, der deinem, meinem und dem Volk
der Elfen wirklich helfen kann. Du warst und bist der Richtige, am
richtigen Ort und zur richtigen Zeit. Vergiss das
niemals!
Mag sein, dass es
damals gestimmt hat, erwiderte Eragon, aber das war, bevor Durza mich verwundet hat. Jetzt aber
sehe ich unserer Zukunft mit größter Sorge entgegen. Ich gebe nicht
auf, doch ich fürchte, dass wir nicht siegen werden. Vielleicht
besteht unsere Aufgabe ja gar nicht darin, Galbatorix zu stürzen,
sondern den nächsten Reitern, die von den Drachen in den beiden
verbliebenen Eiern eines Tages erwählt werden, den Weg zu
ebnen.
Nach seiner Ankunft auf den Felsen von
Tel’naeír ging Eragon in Oromis’ Hütte. Der Elf saß am Tisch und
malte mit schwarzer Tinte eine Landschaft auf den unteren Rand
einer Schriftrolle, die er gerade voll geschrieben hatte.
Eragon kniete nieder. »Meister.«
Eine Viertelstunde verstrich, in der Oromis
einen verschlungenen Wacholderbusch zu Ende malte. Er stellte die
Tinte weg und reinigte den Zobelpinsel in einem mit Wasser
gefüllten Tontopf. Erst dann wandte er sich Eragon zu. »Warum
kommst du so früh?«
»Entschuldigt, wenn ich Euch störe, aber
Vanir hat unsere Übungen abgebrochen und ist gegangen, und ich
wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte.«
»Warum ist er gegangen, Eragon-Vodhr?«
Oromis faltete die Hände im Schoß und hörte
zu, während Eragon ihm die Auseinandersetzung mit dem jungen Elf
schilderte. »Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen«,
endete er. »Aber ich habe sie nun mal verloren und stehe jetzt noch
dümmer da. Ich habe Euch enttäuscht, Meister.«
»Ja, das hast du«, bestätigte Oromis. »Vanir
hat dich provoziert, aber das ist kein Grund, es ihm mit gleicher
Münze zurückzuzahlen. Du musst deine Gefühle im Zaum halten,
Eragon! Es könnte dich das Leben kosten, wenn du in einer Schlacht
wütend wirst. Wut schmälert das Urteilsvermögen. Außerdem bestärkt
dein albernes Verhalten nur die Meinung der Elfen, die gegen dich
eingenommen sind.«
»Es tut mir Leid, Meister. Es wird nicht
wieder vorkommen.« Da Oromis offenbar sitzen bleiben wollte, bis
ihre gewohnte Zeit für den Rimgar kam, nutzte Eragon die
Gelegenheit, um ihn etwas zu fragen, was ihn sehr beschäftigte.
»Wie konnte Vanir einen Zauber wirken, ohne zu sprechen?«, fragte
er.
»Hat er das getan? Vielleicht hat ihm ja ein
anderer Elf geholfen.«
Eragon schüttelte den Kopf. »Schon an meinem
ersten Tag in Ellesméra habe ich gesehen, wie Islanzadi einen
Blütenschauer herabregnen ließ, indem sie einfach nur in die Hände
klatschte. Vanir meinte, ich wüsste nicht, wie Magie funktioniert.
Was hat er damit gemeint?«
»Du greifst wieder nach Wissen, für das du
noch nicht bereit bist«, antwortete Oromis verdrossen. »Aber unter
den gegebenen Umständen kann ich es dir wohl kaum vorenthalten.
Also hör mir zu: Das, wonach du fragst, wurde und wird
Zauberkundigen und Drachenreitern erst dann beigebracht, wenn sie
alle anderen Aspekte der Magie gemeistert haben, denn es berührt
den innersten Kern der Magie und der alten Sprache. Diejenigen, die
darum wissen, erlangen große Macht, ja, aber es stellt auch ein
immenses Risiko dar.« Er sah Eragon scharf an. »Wie ist die alte
Sprache an die Magie gebunden, Eragon-Vodhr?«
»Die Worte der alten Sprache können die
Energie freisetzen, die einem Körper innewohnt, und so einen Zauber
aktivieren.«
»Du meinst also, dass bestimmte Laute,
bestimmte Vibrationen in der Luft diese Energie in Bewegung setzen?
Laute, die auch jedes andere Geschöpf oder gar ein Gegenstand
zufällig erzeugen kann?«
»Ja, Meister.«
»Kommt dir das nicht absurd vor?«
»Es spielt keine Rolle, ob ich es absurd
finde, Meister«, entgegnete Eragon verwirrt. »Es ist eben so.
Sollte ich es absurd finden, dass der Mond ab- oder zunimmt, dass
die Jahreszeiten wechseln oder dass die Vögel im Winter gen Süden
ziehen?«
»Natürlich nicht. Aber wie kann ein
einfacher Laut eine so mächtige Wirkung erzielen? Können bestimmte
Muster von Tonhöhe und Lautstärke wirklich Reaktionen auslösen, die
es uns erlauben, Energie zu manipulieren?«
»Aber das tun sie doch!«
»Nein. Geräusche haben keine Macht über die
Magie. Es ist nicht wichtig, ein Wort in der alten Sprache zu
äußern, sondern es in dieser Sprache zu denken!« Mit einer kurzen Handbewegung ließ Oromis
auf seiner Handfläche eine Flamme erscheinen, die sofort wieder
erlosch. »Wir sprechen unsere Zauber nur deshalb laut aus, um zu
verhindern, dass abschweifende Gedanken auf sie einwirken, denn
dies kann selbst für den erfahrensten Magier gefährlich
sein.«
Bestürzt dachte Eragon an den Moment zurück,
als er unter dem Wasserfall am Kóstha-mérna beinahe ertrunken wäre
und keinen Zauber hatte wirken können, weil er von Wasser umgeben
war.Hätte ich das damals gewusst, hätte ich
mich gleich retten können! »Meister«, sagte er laut,
»wenn Laute die Magie nicht beeinflussen, warum tun es dann die
Gedanken?«
Jetzt lächelte Oromis. »Ja, warum
eigentlich? Ich muss noch einmal betonen, dass
nicht wir die Quelle der Magie
sind. Magie existiert aus sich selbst heraus, unabhängig von jedem
Zauberspruch, so wie die Werlichter in den Sümpfen von Aroughs, die
Traumzisterne in Manis Kavernen im Beor-Gebirge und der schwebende
Kristall von Eoam. Ungezähmte Magie wie diese ist tückisch,
unberechenbar und oft viel mächtiger als diejenige, welche wir
wirken können.
Vor Äonen von Jahren war alle Magie
ungezähmt. Um sie nutzen zu können, bedurfte es nur der Fähigkeit,
die jeder Zauberkundige besitzen muss, nämlich sie mit dem Geist
wahrzunehmen und den Wunsch und die Kraft zu besitzen, sie zu
gebrauchen. Ohne die Strukturen der alten Sprache konnten die
Magier ihre Fähigkeiten allerdings nicht kontrollieren und brachten
deshalb großes Unheil über das Land und töteten unzählige
Lebewesen. Mit der Zeit begriffen sie, dass sie ihre Absichten
leichter und vor allem zielgerichtet umsetzen konnten, wenn sie den
Zauber in ihrer Sprache äußerten und nicht nur in Gedanken. Damit
gelang es ihnen, verheerende Irrtümer zu vermeiden. Und trotzdem
war die Methode nicht narrensicher. Irgendwann kam es zu einem
furchtbaren Unglück, das beinahe alles Leben auf der Welt
ausgelöscht hätte. Wir wissen von diesem Ereignis nur aus den
wenigen Manuskripten, die aus dieser Ära überliefert wurden. Wer
diesen tödlichen Zauber gewirkt hat, ist uns nicht bekannt. In den
Manuskripten heißt es bloß, dass nach der Katastrophe das so
genannte graue Volk - nicht wir Elfen, denn damals waren wir eine
noch sehr junge Rasse - seine Kräfte gebündelt hat und einen
gewaltigen Zauber wob, vielleicht den größten, den es je gab, und
mit vereinten Kräften das Wesen der Magie veränderte. Sie formten
sie so um, dass ihre Sprache, die alte Sprache, die Wirkung der
Magie kontrollierte, ja sogar eingrenzte. Deshalb kannst du sagen
›Tür, verbrenne!‹ und mich dabei zufällig ansehen oder an mich
denken. Dein Zauber würde trotzdem die Tür verbrennen und nicht
mich. Darüber hinaus verlieh das graue Volk der alten Sprache ihre
beiden bis heute einzigartigen Eigenschaften, nämlich dass man in
ihr nicht lügen kann und dass man mit ihr die wahre Natur der Dinge
beschreibt. Wie ihnen das gelang, bleibt ihr Geheimnis.
Die Manuskripte widersprechen sich jedoch
darin, was aus dem grauen Volk wurde, nachdem es sein Werk
vollendet hatte. Anscheinend hat diese Anstrengung ihnen alle
Lebenskraft geraubt und sie zu einem Schatten ihrer selbst gemacht.
Sie sind verblasst und zogen sich in ihre Städte zurück, wo sie
lebten, bis die Steine zu Staub zerfielen. Oder aber sie haben sich
mit anderen Völkern vermischt und sind so allmählich in
Vergessenheit geraten.«
»Dann ist es also möglich«, erkundigte sich
Eragon, »die Magie ohne Worte, nur mit Gedanken
heraufzubeschwören?«
»Wie, glaubst du, speit Saphira Feuer?
Deinen eigenen Angaben zufolge hat sie nichts gesagt, als sie Broms
Grabmal in einen Diamantenhügel verwandelte und als sie in Farthen
Dûr das Kind mit dem Drachenmal versehen hat. Der Geist der Drachen
unterscheidet sich von unserem; sie bedürfen keines Schutzes vor
der Magie. Sie können sie zwar nicht bewusst gebrauchen, außer wenn
sie Feuer speien, aber wenn die Gabe sie berührt, sind ihre Kräfte
unvergleichlich. - Du siehst besorgt aus, Eragon. Warum?«
Eragon starrte hinunter auf seine Hände.
»Was bedeutet das für mich, Meister?«
»Es bedeutet, dass du weiterhin die alte
Sprache studieren wirst, denn du kannst mit ihr vieles bewirken,
was auf die herkömmliche Art zu anstrengend oder zu gefährlich
wäre. Es bedeutet aber auch, dass du, wenn du gefesselt und
geknebelt bist, die Magie mit deinen Gedanken heraufbeschwören
kannst, so wie Vanir es getan hat. Und wenn du einen Zauber wirken
möchtest, für den es in der alten Sprache keine Worte gibt, tust du
es eben auch mit deinen Gedanken.« Er hielt inne. »Aber hüte dich
vor der Versuchung, diese Macht leichtfertig zu gebrauchen. Selbst
die Weisesten unter uns setzen diese Fähigkeit nur selten ein, denn
sie fürchten, dass sie dabei der Tod oder Schlimmeres ereilen
könnte.«
An den darauf folgenden Tagen seines
Aufenthalts in Ellesméra verlor Eragon bei den Schwertkämpfen mit
Vanir nicht mehr die Beherrschung, egal was der arrogante Elf sagte
oder tat.
Allerdings investierte Eragon auch nicht
mehr so viel Kraft in die Kämpfe. Die Schmerzen in seinem Rücken
überfielen ihn immer häufiger und trieben ihn an die Grenze seiner
Belastbarkeit. Er wurde empfindlich; Bewegungsabläufe, die ihm
bisher keine Probleme bereitet hatten, zwangen ihn jetzt zu Boden.
Selbst beim Tanz von Schlange und Kranich bekam er neuerdings
Anfälle, manchmal drei oder vier am Tag.
Eragons Gesicht wurde hager. Er schlurfte
nur noch und bewegte sich langsam und behutsam, um seine Kräfte zu
schonen. Es fiel ihm schwer, klar zu denken und konzentriert
Oromis’ Lektionen zu folgen. Er hatte unerklärliche
Gedächtnislücken. In seiner Freizeit beschäftigte er sich wieder
mit Oriks Spielring und brütete lieber über den ineinander
verschlungenen Goldreifen, statt über seinen Zustand nachzudenken.
Wenn Saphira bei ihm war, bestand sie darauf, dass er auf ihr ritt,
und sie tat alles, was in ihrer Macht stand, um es ihm bequem zu
machen und ihm unnötige Mühen zu ersparen.
Ich habe ein neues Wort
für ›Schmerzen‹ gefunden, sagte Eragon eines Morgens, als
er auf ihrem Rücken saß und sich an ihrem Halsstachel
festhielt.
Wie lautet
es?
Martyrium. Wenn man
Schmerzen hat, existiert nichts anderes mehr. Kein Gedanke, kein
Gefühl. Nur der Drang, ihnen zu entfliehen. Sind sie sehr stark,
nimmt uns das Martyrium alles, was unsere Persönlichkeit ausmacht,
bis wir zu Geschöpfen herabsinken, die noch unter den Tieren
stehen, Kreaturen mit nur einem Bedürfnis und einem einzigen Ziel:
dem Martyrium zu entfliehen.
Es ist ein guter
Begriff.
Ich breche zusammen,
Saphira. Wie ein alter Ackergaul, der zu viele Felder gepflügt hat.
Gib Acht auf mich, sonst verliere ich noch den Verstand und
vergesse, wer ich bin.
Hab keine Angst,
Kleiner! Ich bin bei dir.
Wenig später erlitt Eragon drei Anfälle,
während er gegen Vanir kämpfte, und zwei beim Rimgar. Nach der
Kranichhaltung lag er schmerzgekrümmt am Boden, und als er sich
vorsichtig streckte, befahl Oromis: »Noch mal, Eragon! Du musst die
Balance verbessern.«
Eragon schüttelte den Kopf und knurrte
leise: »Nein.« Er verschränkte die Arme, um sein Zittern zu
verbergen.
»Wie bitte?«
»Nein!«
»Steh auf, Eragon, und versuch es noch
einmal!«
»Nein! Ich kann nicht mehr!«
Oromis kniete sich neben Eragon hin und
legte dem jungen Drachenreiter eine kühle Hand auf die Wange. Er
schaute ihn so gütig an, dass Eragon begriff, wie gern ihn der Elf
hatte und dass Oromis bereitwillig den Schmerz auf sich genommen
hätte, um ihn von seinem Leid zu erlösen. »Gib die Hoffnung nicht
auf«, sagte Oromis. »Niemals.« Durch die Elfenhand schien Kraft in
Eragon zu strömen. »Wir sind Drachenreiter. Wir stehen zwischen dem
Licht und der Dunkelheit und halten sie im Gleichgewicht.
Unwissenheit, Angst und Hass sind unsere Feinde. Bekämpfe sie mit
aller Macht, Eragon, sonst sind wir verloren.« Er erhob sich und
reichte Eragon die Hand. »Jetzt steh auf, Schattentöter, und
beweise, dass du die Schmerzsignale deines Körpers ignorieren
kannst!«
Eragon holte tief Luft, stemmte sich mit
einem Arm vom Boden, zitterte vor Anstrengung. Er zog die Beine an
und hielt kurz inne, dann sprang er auf und sah Oromis an.
Der Elf nickte anerkennend.
Eragon sagte kein Wort, bis sie den Rimgar
beendet hatten und zum Bach gingen, um dort zu baden.
»Meister?«
»Ja, Eragon?«
»Warum muss ich dieses Martyrium erleiden?
Ihr könntet mich doch mit Magie umformen, so wie Ihr es mit den
Bäumen und Pflanzen tut.«
»Das könnte ich. Aber dann würdest du deinen
Körper nicht mehr verstehen und wüsstest nicht, wie du ihn und die
ihm gegebenen Fähigkeiten erhalten kannst. Auf dem Weg, den du
beschreitest, gibt es keine Abkürzungen, Eragon.«
Eragon legte sich in den Fluss und ließ das
kalte Wasser über sich hinwegströmen. Er tauchte den Kopf unter,
hielt sich an einem Felsbrocken fest, damit er nicht forttrieb, und
streckte sich wie ein durchs Wasser zischender Pfeil im Flussbett
aus.